Globalisierung

Biopiraterie

Research Foundation for Science, Technology and Ecology, Neu Delhi, Indien
Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament
Internationale Vereinigung Biologischer Landbaubewegungen

Der freie Baum ist wieder frei

INFORMATION
über den
ERFOLG DER ERSTEN KLAGE GEGEN EIN BIOPIRATERIE-PATENT:

Der Neem-Baum

von Linda Bullard, März 2005

Am 8. März 2005 bestätigte die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes (EPA) in München, Deutschland, mit einer historischen Entscheidung ein früheres Urteil, wonach ein Patent für ein Pilzbekämpfungsmittel aus den Samen des Neem-Baumes in seiner Gesamtheit widerrufen wird. Damit endete eine zehn Jahre andauernde Auseinandersetzung um die weltweit erste Klage gegen ein Biopiraterie-Patent.

DER NEEM-BAUM

Der botanische Name des Neem-Baums lautet Azadirachta indica, abgeleitet von der persischen Bezeichnung Azad-Darakth, zu Deutsch der freie Baum. Er gehört zur Familie der Mahagonigehölze und ist auf dem indischen Subkontinent beheimatet. Im vergangenen Jahrhundert fand er in vielen Ländern Afrikas, Mittel- und Südamerikas, der Karibik und Asiens Verbreitung, wo er inzwischen ebenfalls gedeiht. Der Neem ist ein schöner immergrüner Baum der Tropen, der bis zu 30 Meter Höhe sowie einen Umfang von 2,5 Metern erreichen kann. Seine ausladenden Zweige bilden eine runde Krone mit einem Durchmesser von bis zu 10 Metern; der Baum kann mehr als zweihundert Jahre alt werden.

Der Neem ist der in Indien am häufigsten verwendete Baum. Er wird in über 2000 Jahre alten indischen Schriften erwähnt, und seine Substanzen werden seit Jahrhunderten in der Landwirtschaft als Insektenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel sowie in der Human- und Veterinärmedizin und für Toiletten- und Kosmetikartikel eingesetzt. In der Kultur, den Religionen und der Literatur der Region wird er verehrt. Indien hat seinen „freien Baum“ und das Wissen um seine unzähligen Wirkungen freimütig mit der internationalen Gemeinschaft geteilt; aber jetzt wird diese wichtige Ressource durch das Patentsystem Privateigentum einiger weniger Unternehmen.

DIE NEEM-PATENTE

Bisher sind beim EPA 65 Patente auf Erzeugnisse aus dem Neem eingereicht worden, von denen 22 erteilt wurden, 28 aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Kraft sind und 9 derzeit noch geprüft werden. Diese Patente betreffen Insektizide, fungizide Wirkungen, Extraktionsmethoden, lagerbeständige Rezepturen für einen der Inhaltsstoffe, Azadirachtin, empfängnisverhütende sowie medizinische Anwendungen. Zwar haben einige indische Unternehmen Patente auf den Neem angemeldet – auf multinationale Konzerne wie das US-amerikanische Pharmaunternehmen Rohm and Haas und den berüchtigten US-Agrochemieriesen W.R. Grace1entfällt jedoch die doppelte Anzahl.

Es muss erwähnt werden, dass es sich in keinem Fall um Gentechnikpatente handelt; auch betreffen diese Patente weder den Baum insgesamt noch irgendeinen Teil davon.

DER NEEM UND BIOPIRATERIE

Die Neem-Patente bringen ihren so genannten Eigentümern große finanzielle Vorteile, während jene, die als erste die Verwendungsmöglichkeiten des Neem erkannten und dieses Wissen mit der ganzen Welt teilten, leer ausgehen. Die Neem-Patente sind nur ein Beispiel aus dem großen Katalog der – aus dem Süden stammenden – genetischen Ressourcen, für die einige wenige – zumeist aus dem Norden stammende – multinationale Konzerne geistige Eigentumsrechte beanspruchen. Das Patentsystem des Nordens war nicht darauf ausgelegt, die Ergebnisse kollektiver Innovationsprozesse wie jene, die die heute bekannten verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des Neem hervorbrachten, als Erfindungen anzuerkennen oder zu belohnen. Erst wenn diese Verwendungen in Begriffen der westlichen Wissenschaft und Technik beschrieben sind, wird von einer „Erfindung“ ausgegangen, und ein einzelner „Erfinder“ oder eine Gruppe einzelner „Erfinder“ kann mit den alleinigen Eigentumsrechten belohnt werden, die ein Patent zuerkennt. Durch diesen Mechanismus kommt es zu einem massiven Transfer biologischen und geistigen Reichtums aus der „Dritten Welt“ in den Norden.

Eine unmittelbare Folge des durch das Patentsystem ermöglichten Unternehmensmonopols auf den Neem ist ein gewaltiger Anstieg der Nachfrage nach Samen durch die Industrie. Das Fungizid, für das von den USA/Grace ein Patent beansprucht wird, kann ohne natürlich vorkommenden Neem-Samen nicht produziert werden. Ein von Grace in Indien errichtetes Werk kann 20 Tonnen Samen täglich verarbeiten. Fast alle gesammelten Samen – die früher den Bauern und Heilern kostenlos zur Verfügung standen – werden jetzt von dem Unternehmen aufgekauft, wodurch der Preis für Neem-Samen derart in die Höhe geschossen ist, dass dieser für normale Menschen nicht mehr erschwinglich ist. Neem-Öl selbst, das als Lampenöl verwendet wurde, ist jetzt praktisch nicht mehr erhältlich, da die örtlichen Ölmühlen keine Samen mehr bekommen können. Den Armen geht eine überlebenswichtige Ressource verloren, die einst überall und billig für sie zu haben war.

Um gegen die Ungerechtigkeit der Biopiraterie vorzugehen, versuchte man, in der EU-Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen einen Mechanismus der „vorherigen Zustimmung“ einzuführen. Letzten Endes wurde diese äußerst umstrittene Rechtsvorschrift jedoch im Juli 1998 ohne die vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen erlassen. Die Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht erweist sich allerdings als schwierig, und die Europäische Kommission hat den fälligen Bericht über ihr Funktionieren bisher nicht vorgelegt. Einen weiteren Schwerpunkt der Bemühungen bildet das Übereinkommen über die biologische Vielfalt. Hierbei wird angestrebt, dass dieses internationale Rechtsdokument den Parteien die Verpflichtung auferlegt, bei Patentanmeldungen im Bereich der biologischen Ressourcen den Ursprung des Materials zu benennen und Maßnahmen zu ergreifen, um die vorherige Zustimmung der so benannten Gemeinschaften einzuholen. Viel Energie richteten die NGOs auch auf das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPs), die multilaterale Vereinbarung über Patentregimes, die Teil des ursprünglichen Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) war. Der konkreteste Schritt gegen Biopiraterie-Patente in Europa bestand jedoch darin, eines dieser Patente direkt innerhalb des Rechtssystems anzufechten, das es erteilt hatte, um auf diese Weise einen Präzedenzfall zu schaffen.

CHRONOLOGIE DES FALLES

Am 12. Dezember 1990 reichten der multinationale Agroindustriekonzern W.R. Grace aus New York und die Vereinigten Staaten von Amerika vertreten durch den Landwirtschaftsminister auf der Grundlage einer vorrangigen US-Anmeldung vom 26. Dezember 1989 beim Europäischen Patentamt eine Europäische Patentanmeldung ein. Diese betraf eine Methode zur Kontrolle des Pilzbefalls von Pflanzen mit Hilfe hydrophoben extrahierten Neem-Öls. Es war dies die dritte Anmeldung durch W.R. Grace für ein aus dem Neem gewonnenes Produkt.

Nach einem sehr schwierigen und kontroversen Prüfverfahren veröffentlichte das EPA am 14. September 1994 die Erteilung eines europäischen Patents mit der Nr. 436257 für diese Anmeldung, wobei der wesentliche Anspruch des Patents vom EPA beschränkt wurde auf eine Methode zur Kontrolle von Pilzen auf Pflanzen, die den Kontakt der Pilze mit einer Neem-Öl-Rezeptur beinhaltet, welche 0,1 bis 10 % eines hydrophoben extrahierten Neem-Öls enthält, das im Wesentlichen azadirachtinfrei ist, sowie 0,005 bis 5,0 % eines emulgierenden grenzflächenaktiven Stoffes und 0 bis 99 % Wasser.

Neun Monate später wurde von drei „Klägern“ gemeinsam Einspruch gegen dieses Patent eingelegt: Magda Aelvoet, MEP, damals Vorsitzende der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament, Brüssel, Dr. Vandana Shiva, im Namen der Research Foundation for Science, Technology and Natural Resource Policy in Neu Delhi, Indien, und die in Deutschland ansässige Internationale Vereinigung Biologischer Landbaubewegungen (IFOAM), vertreten durch ihre spätere Präsidentin Linda Bullard. Die drei Partner entschlossen sich ganz bewusst für einen Einspruch gegen genau dieses Patent, zum einen wegen der „Inhaber“ des Patents: Sie wollten zeigen, wie die Regierungen reicher Länder – in diesem Fall der Vereinigten Staaten – mit multinationalen Konzernen – in diesem Fall dem berüchtigten Unternehmen W.R. Grace (eine Chronik seiner Aktivitäten ist dem Buch „A Civil Action“ zu entnehmen, das auch verfilmt wurde) – gemeinsame Sache machen, um dem Süden mit Hilfe des Patentsystems biologische Ressourcen zu rauben. Es ist auch kein Zufall, dass gerade diese drei gemeinsam Einspruch einlegten – eine Organisation des Landes, in dem der Raub stattfand, eine internationale Organisation, die Nutzer und Erzeuger biologischer Neem-Produkte in der ganzen Welt vertritt, und eine Umweltpartei, die über gute Voraussetzungen verfügt, um Veränderungen im Rechtssystem zu bewirken, damit Biopiraterie geächtet wird. Innerhalb dieser Organisationen waren es Frauen, die die Klage in die Wege leiteten und aufrechterhielten – eine Inderin, eine Belgierin und eine Amerikanerin.

Wenngleich die Klägerinnen zunächst ohne Rechtsbeistand Einspruch eingelegt hatten, bevollmächtigten sie kurze Zeit darauf Prof. Dr. Fritz Dolder (Professor für geistiges Eigentum, Juristische Fakultät, Universität Basel, Schweiz) mit ihrer Vertretung, der diese Ausgabe zehn Jahre lang bis zum Abschluss des Falles wahrnahm.

Die Klägerinnen führten an, die fungizide Wirkung hydrophober Auszüge aus Neem-Samen sei in Indien seit Jahrhunderten bekannt und würde in breitem Umfang genutzt, sowohl in der ayurvedischen Medizin zur Heilung dermatologischer Erkrankungen als auch in der traditionellen indischen Landwirtschaft zum Schutz vor Ernteverlusten durch Pilzbefall. Da dieses traditionelle indische Wissen in der indischen Kultur praktisch seit Urzeiten allgegenwärtig sei, erfülle das fragliche Patent zwei grundlegende Voraussetzungen für die Erteilung eines Europäischen Patents nicht, nämlich „Neuheit“ (Artikel 54 des Europäischen Patentübereinkommens [EPÜ]) und “erfinderische Tätigkeit” (EPÜ-Artikel 56, in den USA als „nicht naheliegende“ Idee bezeichnet).

Darüber hinaus führten die Klägerinnen an, das Patent würde gegen die „guten Sitten“ verstoßen, Artikel 53 a) des EPÜ, weil die so genannten Erfinder die alleinigen Eigentumsrechte für eine Methode beanspruchten, die in Indien Teil des traditionellen Wissens sei – es somit im Wesentlichen stehlen – und Diebstahl würde in der europäischen Kultur gegen die guten Sitten verstoßen. Schließlich forderten sie unter Verweis auf die formalen Gründe „nicht vollständige Offenbarung“ (EPÜ-Artikel 83) und „mangelnde Deutlichkeit“ (EPÜ-Artikel 84) den Widerruf des Patents. Später machten die Klägerinnen einen weiteren Einspruchsgrund geltend, dass nämlich das Patent de facto ein Monopol auf eine einzelne Pflanzensorte darstelle, was Artikel 53 b) des EPÜ untersagt.

Es dauerte fünf Jahre, bis der Fall vor die Einspruchsabteilung des EPA gelangte. Während dieser Zeit legten die Klägerinnen Beweise und eidesstattliche Erklärungen zur Unterstützung der Aussagen ihres ursprünglichen Einspruchs vor. Schließlich wurde die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung des EPA in München für den 9. und 10. Mai 2000 anberaumt.

Um die Mittagszeit des ersten Vernehmungstages versammelten sich vor dem Gebäude des EPA Demonstranten, die Spruchbänder mit der Aufschrift „Keine Patente für Diebstahl“ trugen sowie Schilder, auf denen alle auf den Neem erteilten bzw. noch anhängigen Europäischen Patente dargestellt waren. In einer symbolischen Aktion wurde ein zwei Meter großer Neem von einer Delegation von Wissenschaftlern und Bauern aus Indien und Sri Lanka von Patenten „befreit“ und somit für jedermann nutzbar. Listen mit den Unterschriften von 100.000 indischen Bürgern, die den Widerruf aller auf den Neem erteilten Patente forderten, wurden einem Vertreter des EPA übergeben.

Zur Unterstützung ihrer Aussagen hatten die Klägerinnen zwei Sachverständige aus Indien mitgebracht: Dr. Udai Pratap Singh aus Varanasi (Professor und Leiter der Abteilung Mykologie and Pflanzenpathologie, Institut für Landwirtschaftswissenschaften, Hindu-Universität Benares) und Herr Abhay Dattaray Phadke aus Puna (Geschäftsführer der Ajay Bio-Tech (Indien) Ltd.). Dr. Singh ist unter Wissenschaftlern weithin als Indiens führender Experte in Fragen des Neem anerkannt. Herr Phadke ist diplomierter Landwirt und vermarktete in Indien ein Neem-Produkt (ohne Patentschutz hierfür zu beantragen) – nach einer Entwicklungsphase und umfangreichen Feldversuchen mit Bauern. Interessanterweise war Herr Phadke früher bei Rhône-Poulenc beschäftigt und hatte dort die Vermarktung des Neem-Produkts angeregt; das Unternehmen lehnte dies jedoch mit der Begründung ab, es wäre niemals möglich, für ein solches Produkt ein Patent zu erhalten, weshalb die Herstellung wirtschaftlich uninteressant sei. Er stellte auch persönlich W.R. Grace Proben seines Neem-Fungizids „Neemark“ zur Verfügung.

Die Patentinhaber wandten zunächst zahlreiche Schachzüge an, um den Einspruch aus formalen Gründen als unzulässig verwerfen zu lassen – indem sie zum Beispiel geltend machten, dass die Gebühr hätte dreifach entrichtet werden müssen, da der Einspruch von drei Parteien getragen worden sei (ungeachtet der Tatsache, dass die zwei „Inhaber“ nur eine Anmeldegebühr entrichtet hatten), bzw. dass die Zahlung nicht rechtzeitig erfolgte oder die nichteuropäische Klägerin bei Einlegung des Widerspruchs nicht angemessen vertreten gewesen sei. Jedoch eines um das andere Mal befand die Einspruchsabteilung in allen Verfahrensfragen zugunsten der Klägerinnen, wobei sie sich jeweils zur Beratung zurückzog, danach in den Sitzungssaal zurückkehrte, ihre Entscheidung verkündete und das Verfahren fortsetzte.

Dann wurde der erste Zeuge aufgerufen, Herr Phadke. Seine Aussage nahm viel Zeit in Anspruch, war außerordentlich detailliert, mit zahlreichen Dokumentationen unterlegt und absolut vernichtend. Dr. Singh durfte während der Vernehmung nicht anwesend sein, um seine Aussage nicht zu beeinflussen. Geduldig wartete er anderthalb Tage auf dem Flur darauf, hereingerufen zu werden, aber dazu kam es nicht, weil die vom ersten Zeugen vorgelegten Beweise für den Widerruf des Patentes ausreichten.

Nachdem Herr Phadke seine Aussage beendet hatte, entschied die Einspruchsabteilung, die vom Patentinhaber beanspruchte Neuheit sei auf Grund der klar nachgewiesenen früheren allgemeinen Verwendung widerlegt. Nach Auskunft von Dr. Dolder ist es schwierig und passiert recht selten, dass ein Patent aus Gründen fehlender Neuheit abgelehnt wird, aber hier war es der Fall. Jetzt hätte alles vorbei sein können, aber die Anwälte von USA/Grace legten einen „Hilfsantrag“ vor, der ihre Neem-Rezeptur leicht abänderte, so dass sie nun außerhalb der von Herrn Phadke beschriebenen Parameter lag: Die Konzentration von Neem-Öl in dem Präparat wurde jetzt mit genau 0,25 % angegeben, nicht mehr und nicht weniger. Praktisch wäre dieser abgeänderte Anspruch für den Patentinhaber nutzlos gewesen, weil die Prozentangabe so eng definiert war, dass sie in Wirklichkeit kein Monopol mehr darstellte (das heißt, es wäre für einen Konkurrenten sehr leicht gewesen, eine Patentverletzung zu vermeiden). Dennoch wurde dieser abgeänderte Anspruch sofort geprüft und dieses Mal befand die Einspruchsabteilung, dass es der „Erfindung“ selbst in abgewandelter Form an erfinderischer Tätigkeit mangele. Demzufolge wurde das Patent insgesamt widerrufen.

Die Kammer hatte nicht zugunsten der Klägerinnen befunden, was deren Vorwurf anbetraf, das Patent stelle de facto ein Monopol auf eine einzelne Pflanzensorte dar oder es handele sich um einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten. Andererseits akzeptierte sie das Argument der Klägerinnen, Patente sollten nicht auf tradiertes kollektives Wissen erteilt werden, wies jedoch darauf hin, dass dieses Argument verwendet werden sollte, um den „Stand der Technik“ festzustellen und es sich nicht um eine Frage der guten Sitten im Sinne des Europäischen Patent-Übereinkommens handele.

Die USA und W.R. Grace wandten sich an die nächsthöhere Ebene innerhalb des EPA, die Technische Beschwerdekammer, forderten die Rücknahme der Entscheidung der Einspruchsabteilung und legten eine abermals abgeänderte Rezeptur ihres ursprünglichen Anspruchs vor.

Fünf weitere Jahre vergingen mit Fristen und Anträgen, ehe der Fall noch einmal im EPA zur mündlichen Verhandlung kam. Inzwischen hatte W.R.Grace seine Patentrechte einem Tochterunternehmen – Thermo Trilogy – übertragen, ursprünglich eine Forschungsgruppe der W.R. Grace, die danach in die Abteilung Grace Biopestizide umgewandelt und später verkauft worden war. Thermo Trilogy ist auf so genannte „biorationale“ Pestizide spezialisiert. 2001 wurde das Vermögen der Thermo Trilogy, einschließlich seiner Patente, von Certis erworben, einer hundertprozentigen Tochter des japanischen Unternehmens Mitsui & Co., das nun weltweit zu den größten Anbietern von Technologien für „sichere Lebensmittel“ gehört. Während dieser Unternehmensumwandlungen blieben die Vereinigten Staaten von Amerika stets „Mitinhaber“ des Patents.

Obwohl zwei Tage für das Revisionsverfahren festgesetzt worden waren, erwiesen sich die Argumente als so stichhaltig, dass die Technische Beschwerdekammer nur zwei Stunden benötigte, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Sie hatte es zuvor abgelehnt, noch einmal Herrn Phadke oder Dr. Singh anzuhören, wenngleich im Verfahren auf die Arbeiten beider Bezug genommen wurde. Die Patentinhaber versuchten erneut, den Einspruch aus formalen Gründen als unzulässig verwerfen zu lassen, aber die Kammer ging auf diese Fragen erst gar nicht ein. Ein zweiter „Hilfsantrag“ zur Abänderung der Rezeptur des Erzeugnisses wurde mit der Begründung abgewiesen, dies ginge über den ursprünglich eingereichten Inhalt hinaus (Artikel 123 (2)). Dann wurde der Hauptteil des Patents auf Neuheit, Offenbarung und erfinderische Tätigkeit geprüft. Nach Anhörung der Argumente der Klägerinnen zog sich die Kammer zu einer nichtöffentlichen Sitzung zurück, um ihre Entscheidung zu treffen.

Am 8. März kurz nach 11 Uhr verkündete der Vorsitzende: „Die Beschwerde wird zurückgewiesen. Das Patent wird widerrufen.“ Die Kammer begründete ihre Entscheidung nicht, es kann jedoch angenommen werden, dass die Begründung der Einspruchsabteilung beibehalten wurde, das Patent erfülle die Voraussetzungen in Bezug auf Neuheit und/oder erfinderische Tätigkeit nicht. Ein schriftlicher Beschluss, aus dem die Gründe für die Entscheidung der Kammer hervorgehen, wird beiden Parteien zugeleitet. Jedenfalls haben die Vereinigten Staaten und Thermo Trilogy bei diesem Patent keine weiteren Möglichkeiten: Es ist unwiderruflich widerrufen.

RECHTSPRECHUNG

Die Anfechtung des Neem-Patents geht jetzt in die Entscheidungspraxis des Europäischen Patentsystems ein und hat hoffentlich nicht nur für noch in der Prüfung befindliche Patentanmeldungen auf den Neem, sondern für ALLE beim EPA angemeldeten Biopiraterie-Patente Konsequenzen. Hervorzuheben ist, dass der Fall mit Hilfe eidesstattlicher Erklärungen und Zeugenaussagen gewonnen wurde, und dass die intellektuellen Leistungen traditioneller Gesellschaften offiziell als Mittel anerkannt wurden, den „Stand der Technik“ festzustellen:

Darüber hinaus stimmt die Einspruchsabteilung den Klägerinnen zu, dass Patente nicht für etwas erteilt werden sollten, das vorher bekannt gewesen ist, zum Beispiel als Teil gemeinsamen traditionellen Wissens [Hervorhebung durch die Verfasserin]. Gemäß Europäischem Patentübereinkommen fällt dies jedoch nicht unter Artikel 53 a), sondern ist eine Frage von Neuheit oder vorheriger öffentlicher Nutzung.2

Der Widerruf des Neem-Patents zeigt, dass es möglich ist, gegen Biopiraterie vorzugehen, aber hierfür ist es erforderlich, diesen historischen Präzedenzfall weiter auszubauen und in einen übergreifenden internationalen Rechtsrahmen münden zu lassen. Für Neem-Patente in anderen Rechtssystemen hat der Widerruf zum Beispiel keine unmittelbaren Folgen. Allerdings hat die Ad Hoc Open-Ended Working Group on Access and Benefit Sharing des Übereinkommens über die biologische Vielfalt nach der endgültigen Entscheidung des EPA die Klägerinnen im Neem-Fall eingeladen, über ihre Erfahrungen bezüglich Auftreten, Art, Umfang und Kosten der unrechtmäßigen Aneignung genetischer Ressourcen [Derivate] und damit zusammenhängendem traditionellen Wissen zu berichten. Das sofortige Interesse der Arbeitsgruppe ist ein ermutigendes Zeichen dafür, dass der mit dem Sieg über dieses Neem-Patent geschaffenen Präzedenzfall Eingang in andere verbindliche internationale Übereinkommen und Rechtsdokumente finden kann.

DIE NEEM-KAMPAGNE

Die Anfechtung des Neem-Patents wurde in Solidarität mit der Neem-Kampagne in Indien initiiert. Diese war 1993 von indischen Bauern ins Leben gerufen worden, die fürchteten, ihre genetischen Ressourcen und ihr traditionelles Wissen würden durch Patentierung immer mehr unter ausländische Kontrolle geraten. Sie sahen in diesem Vorgang eine moderne Form der Einfriedung früher gemeinsam genutzten Landes – nur dass es hier nicht um die Privatisierung öffentlichen Landes, sondern öffentlichen Wissens ging. Die Idee, das Patent anzufechten, wurde 1994 auf einer Zusammenkunft von Sozial-/Umweltaktivisten in Malaysia entwickelt. Im darauf folgenden Jahr reisten Magda Aelvoet und Linda Bullard auf Einladung von Vandana Shiva nach Indien, um dort mit NGOs, Regierungsstellen und der Presse über das Thema „Patente auf Leben“, das europäische und internationale Patentrecht und die Anfechtung des Neem-Patents zu sprechen, die sie zwei Monate später einreichten.

Neben den drei „Klägerinnen“, die den Einspruch gegen das Patent einreichten, schlossen sich folgende Organisationen der Aktion an und unterstützten sie: Karnataka Rajya Raitha Sangha (Indien); Third World Network (Malaysia); Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament (EU); Europäische Koordination „Kein Patent auf Leben!“ (Schweiz); Rural Advancement Fund, International (Kanada); Cultural Survival Canada (Kanada); the Cultural Conservancy (USA); Edmonds Institute (USA); Institute for Agriculture and Trade Policy (USA); Washington Biotechnology Action Project (USA); Rio Grande Bioregions Project (USA). Eine breite Koalition weiterer europäischer NGOs unterstützte die Klägerinnen auch materiell und moralisch.

Bedeutende Mittel für Gerichtskosten und damit verbundene Auslagen stellten großzügig zur Verfügung:

HIVOS, Niederlande
Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament (später deren Nachfolgerin Fraktion der Grünen/FEA im Europäischen Parlament), Brüssel, Belgien

Zusätzliche Unterstützung kam von der Schweisfurth-Stiftung in München, Deutschland, und dem Edmonds Institute in Washington, USA.

TEILE DIESE HINTEGRUNDINFORMATION WURDEN ENTNOMMEN AUS:

Intellectual Piracy and the Neem Patents, Research Foundation for Science, Technology and Natural Resource Policy, Dehradun, Indien, 1993.

Campaign against Biopiracy, Research Foundation for Science, Technology and Natural Resource Policy, Neu Delhi, Indien, November 1999.

Alle Rechtsdokumente zu diesem Fall sind auf der Website des Europäischen Patentamtes für jedermann einsehbar: Gehen Sie auf „epoline“ und geben Sie die Veröffentlichungsnummer EP0436257 ein.

Weitere Informationen erhalten Sie über die Büros der Klägerinnen:

Research Foundation for Science, Technology and Ecology: + 91/11-26561868, -26968077, 26535422; E-Mail: vshiva@vsnl.com; www.navdanya.org

Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament: +32 2 284-1692; E-Mail msomville@europarl.eu.int; Website www.greens-efa.org

IFOAM: +49 228 926-5016; E-Mail n.Sorensen@ifoam.org; Website www.ifoam.org

Linda Bullard, E-mail : lbullard@free.fr

Der Anwalt der Klägerinnen, Dr. Fritz Dolder, steht ebenfalls für Fragen zur Verfügung: fritz.dolder@unibas.ch

1 Eine Aufstellung aller beim Europäischen Patentamt eingereichten Anträge auf Neem-Patente und deren gegenwärtiger Status wurde von Dr. Ruth Tippe zusammengestellt und ist über „Kein Patent auf Leben!“ erhältlich (rtippe@keinpatent.de)

2 Aus dem „Beschluss über den Widerruf des Europäischen Patents...“ des Europäischen Patentamtes, betr. Neem-Fungizide, vom 13.02.2001, Antrag/Patent Nr. 90 250 319.2-2117 / 0436257 / 01

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