frauen und frieden

Irak

Was haben wir getan?

Die erschreckenden Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis trugen dazu bei, deutlich zu machen, dass die Besetzung des Irak verhängnisvoll ist, doch was sagen sie uns wirklich über Amerika? Sind sie einfach nur das Werk weniger krimineller Soldaten oder das Ergebnis einer neuen Außen- und Innenpolitik der Bush-Administration, die in einer zunehmend brutalisierten Gesellschaft bereitwillige Zustimmung findet?

Susan Sontag über die hässliche Fratze des Krieges gegen den Terror

Susan Sontag©, Guardian 2004, 24. Mai 2004

Während langer Zeit - seit mindestens sechs Jahrzehnten - wurde durch Fotos bestimmt, wie wichtige Konflikte beurteilt wurden und wie man sich an sie erinnerte. Das Museum des Gedächtnisses ist heute vor allem ein visuelles. Fotos haben die nicht zu überbietende Kraft, zu bestimmen, an welche Einzelheiten von Ereignissen sich die Menschen erinnern. Es sieht jetzt danach aus, dass das bestimmende Bild, das die Menschen überall mit dem üblen Krieg, den die Amerikaner im letzten Jahr vom Zaun gebrochen haben, verbinden, Fotos der Folterungen irakischer Gefangener im berüchtigtsten Gefängnis Saddam Husseins, Abu Ghraib, sein werden.

Die von der Bush-Administration und ihren Unterstützern benutzten Slogans und Phrasen zielten eher darauf, eine Katastrophe in der öffentlichen Meinungsbildung - die Verbreitung der Fotos - zu begrenzen, als sich mit dem Verbrechenskomplex von Führung, Politik und Verantwortlichkeiten auseinanderzusetzen, der durch die Bilder enthüllt wurde. Es gab, vor allem anderen, die Verdrängung der Realität auf den Fotos selbst. Die ursprüngliche Reaktion der Regierung war die Aussage, dass der Präsident durch die Fotos erschüttert und angewidert sei – als ob die Schuld oder das Grauen in den Fotos läge, nicht in dem, das sie enthüllten. Es gab auch die Vermeidung des Wortes „Folter“. Die Gefangenen seien möglicherweise Objekte von „Peinigungen“, letztlich „Demütigungen“, gewesen – das war das Äußerste, das zugegeben werden konnte. „Mein Eindruck ist, dass bis jetzt Quälereien beklagt wurden, die sich, wie ich glaube, formaljuristisch von Folter unterscheiden“ sagte Verteidigungsminister Rumsfeld bei einer Pressekonferenz. „Und deshalb werde ich nicht das Wort Folter verwenden.“ Worte verändern, sie fügen etwas hinzu oder nehmen etwas fort. Die angestrengte Vermeidung des Wortes „Völkermord“, während vor zehn Jahren der Völkermord an den Tutsis in Ruanda verübt wurde, bedeutete, dass die amerikanische Regierung nicht die Absicht hatte, etwas zu unternehmen. Das, was in Abu Ghraib stattfand – und fast mit Sicherheit in anderen Gefängnissen in Irak und Afghanistan, und in Guantanamo – beim richtigen Namen zu nennen, „Folterungen“, würde wahrscheinlich eine öffentliche Untersuchung bedeuten, Gerichtsverfahren, Kriegsgerichtsprozesse, unehrenhafte Entlassungen, Rücktritt hoher Militärs und verantwortlicher Regierungsmitglieder und beträchtliche Entschädigungszahlungen an die Opfer.
Eine solche Reaktion auf unser Miss-Regime im Irak würde allem widersprechen, was diese Regierung die amerikanische Öffentlichkeit glauben machen wollte über die Lauterkeit der amerikanischen Absichten und Amerikas Recht auf einseitiges Handeln auf der Weltbühne in der Verteidigung seiner Interessen und seiner Sicherheit.

Selbst, als der Präsident schließlich gezwungen war, das „Sorry“-Wort auszusprechen, da der Schaden für Amerikas Ansehen in der ganzen Welt sich ausweitete und vertiefte, schien der Schwerpunkt des Bedauerns immer noch der Schaden für Amerikas Anspruch auf die moralische Überlegenheit, für sein hegemoniales Ziel, dem rückständigen Mittleren Osten „Freiheit und Demokratie“ zu bringen, zu sein. „Ja“, sagte Mr. Bush am 6. Mai in Washington, während er neben König Abdullah II. von Jordanien stand, es tue ihm „Leid für die von den irakischen Gefangenen erlittene Demütigung und die von ihren Familien erlittene Kränkung“. Aber, so fuhr er fort, es tue ihm „gleichermaßen Leid, dass die Menschen, als sie diese Bilder sahen, die wahre Natur und das Herz Amerikas nicht verstanden“.

Das amerikanische Bemühen im Irak auf diese Bilder zu reduzieren, muss denen, die eine Berechtigung für einen Krieg sahen, der einen der monströsen Tyrannen dieser Zeit stürzte, ungerecht erscheinen. Ein Krieg, eine Besetzung, sind unvermeidlich ein riesiges Geflecht von Handlungen. Was macht diese Handlungen typisch und was nicht? Das Problem ist nicht, ob sie von Individuen vorgenommen werden (d.h. nicht von „jedermann“). Alle Aktionen erfolgen durch Individuen. Die Frage ist nicht, ob die Folterungen das Werk einiger weniger Einzelpersonen waren, sondern ob sie systematisch stattfanden. Genehmigt. Stillschweigend gebilligt. Verschleiert. Es war – alles dies. Die Frage ist nicht, ob eine Mehrheit oder eine Minderheit von Amerikanern solche Handlungen vollführt, sondern ob die Natur der von dieser Regierung strafrechtlich verfolgten Vorgehensweisen und die für die Durchführung eingesetzten Hierarchie-Ebenen solche Handlungen wahrscheinlich machen.

In diesem Licht betrachtet, sind wir die Fotos. Das heißt, sie sind Musterbeispiele für typische Politik und generelle Verdorbenheit von Kolonialherrschaft. Die Belgier im Kongo, die Franzosen in Algerien, sie alle begingen vergleichbare Grausamkeiten und wandten Folter und sexuelle Erniedrigung an gegenüber verachteten aufsässigen Einheimischen. Fügt man dazu Korruption, die rätselhafte, nahezu völlig fehlende Vorbereitung der amerikanischen Beherrscher des Irak, mit den komplexen Realitäten eines Irak nach seiner „Befreiung“ umzugehen – das ist Eroberung. Und fügt man weiterhin dazu die überdehnten charakteristischen Doktrinen der Bush-Administration, vor allem, dass die Vereinigten Staaten einen unbegrenzten Krieg begonnen haben (gegen einen sich verwandelnden, Terrorismus genannten, Feind), und, dass die in diesem Krieg Festgenommenen „gesetzwidrige Kämpfer“ sind – eine Betrachtungsweise, die von Rumsfeld bereits im März 2002 formuliert wurde - und deshalb „keinerlei Rechte“ aus der Genfer Konvention besitzen, und man hat ein perfektes Rezept für die Grausamkeiten und Verbrechen gegen Tausende Eingekerkerter ohne Anklagen und Zugang zu Verteidigern in amerikanisch geleiteten Gefängnissen, die als Teil der Antwort auf den Angriff vom 11. September 2002 installiert wurden. Endloser Krieg führt zur Wahlmöglichkeit eines endlosen Freiheitsentzugs, der keiner rechtlichen Überprüfung unterworfen ist.

Danach ist das wirkliche Problem nicht die Existenz der Fotos, sondern das, was die Fotos enthüllen – was „Verdächtigen“ in amerikanischem Gewahrsam zugestoßen ist. Nein: Die Schrecklichkeit dessen, was auf den Fotos gezeigt wird, kann nicht von der Schrecklichkeit der Tatsache getrennt werden, dass die Fotos aufgenommen wurden – die Verbrecher über ihren hilflosen Gefangenen posierend, sich ergötzend. Deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg fotografierten die Gräuel, die sie in Polen und Russland begingen, doch sind Schnappschüsse, auf denen die Peiniger sich zwischen ihre Opfer plazierten, extrem selten (s. Buch von Janina Struk: Photographing the Holocaust). Falls es etwas gibt, das mit dem, was diese Bildern zeigen, vergleichbar ist, könnten es einige Fotos sein – gesammelt in einem Buch mit dem Titel „Without Sanctuary“ [Ohne Zuflucht“ – d. Übers.] – von schwarzen Lynchopfern, aufgenommen zwischen den 1880ern und den 1930er Jahren, die kleinstädtische Amerikaner zeigen, ohne Zweifel die meisten von ihnen Kirchgänger, respektable Bürger, grinsend, unten die nackte geschändete Leiche eines schwarzen Mannes oder einer schwarzen Frau, die hinter ihnen an einem Baum hängt. Die Lynch-Fotos waren Andenken an eine kollektive Aktion, deren Teilnehmer das, was sie getan hatten, für absolut gerechtfertigt hielten. Gleiches gilt für die Fotos aus Abu Ghraib.

Wenn es einen Unterschied gibt, ist es der durch die zunehmende Allgegenwärtigkeit fotografischer Handlungen. Die Lynch-Bilder hatten die Natur von Fotos als Trophäen, aufgenommen von einem Fotografen, um gesammelt zu werden, in Alben geklebt, zur Schau gestellt. Die von den amerikanischen Soldaten in Abu Ghraib aufgenommenen Fotos spiegeln einen Wandel im von den Bildern gemachten Gebrauch wider – weniger Sammelobjekte, als vergängliche Botschaften zur Verbreitung, zum Umlauf. Eine Digitalkamera gehört zum üblichen Besitz der meisten Soldaten. Während einst das Fotografieren des Krieges die Domäne der Fotojournalisten war, sind heute alle Soldaten Fotografen – die ihren Krieg berichten, ihren Spaß, ihre Beobachtungen dessen, was sie für berichtenswert halten, ihre Gräueltaten - und sie tauschen die Fotos untereinander, und sie schicken sie per eMail um den Erdball.

Das was dIe Leute tun, wird immer häufiger festgehalten, von ihnen selbst. Andy Warhols Ideal des Filmens von Ereignissen im realen Leben – Leben ist nicht redigiert, warum sollte dessen Protokoll redigiert werden? – ist eine Norm für Millionen von Internet-Auftritten geworden, in denen Menschen ihren Tag protokollieren, jeder in seiner oder ihrer eigenen Reality-Show. Hier bin ich – aufwachend, gähnend, räkelnd, Zähne putzend, Frühstück zubereitend, die Kinder auf den Weg in die Schule schickend. Die Leute halten alle Aspekte ihres Lebens fest, packen sie in Computerdateien und schicken die Dateien umher. Das Familienlieben geht einher mit dem Protokollieren des Familienlebens – sogar wenn, oder, besonders wenn, die Familie mitten in einer Krise oder der Gefahr einer Blamage steckt. (Mit Sicherheit war das eifrige, ununterbrochene gegenseitige Video-Filmen über viele Jahre, bei Unterhaltung oder Monolog, das erstaunlichste Material in der kürzlichen Dokumentation über eine Familie auf Long Island, die in Verfahren wegen Pädophilie verwickelt war (Andrew Jarecki: Capturing the Friedmans [2003]). Liebesleben ist für immer mehr Menschen etwas, das auf Video festgehalten werden kann.

Leben heißt, fotografiert zu werden, um ein Protokoll seines Lebens zu haben, und deshalb das Leben weiterzuführen, unbewusst, oder vorgebend unbewusst, vor der ununterbrochenen Aufmerksamkeit der Kamera. Es heißt jedoch auch, zu posieren. Handeln bedeutet, teilzunehmen an der Gesamtheit der als Bilder festgehaltenen Handlungen. Der Ausdruck von Befriedigung durch die Folterungs-Handlungen, die jemand an hilflosen, gefesselten, nackten Opfern begeht, ist nur ein Teil der Story.
Hier ist die primitive Art der Befriedigung, fotografiert zu werden, auf die man mit einem harten direkten Blick (wie in früheren Zeiten) zu reagieren eher geneigt ist als mit Schadenfreude. Die Geschehnisse sind zum Teil inszeniert, um fotografiert zu werden. Das Grinsen ist ein Grinsen für die Kamera. Es würde etwas fehlen, wenn man, nachdem man die nackten Männer aufeinander gestapelt hat, sie nicht fotografieren könnte.

Man fragt sich, wie jemand angesichts der Leiden und der Erniedrigung anderer menschliche Wesen grinsen kann - einen nackten irakischen Mann mit einer Hundeleine über den Boden zerren? Wachhunde vor die Genitalien und Beine von kauernden, nackten Gefangen setzen? Gefangene zum Analverkehr vergewaltigen? Angekettete, mit Kapuzen verhüllte, Gefangene zwingen, zu masturbieren oder miteinander sexuelle Handlungen zu begehen? Gefangene zu Tode prügeln? - und fühlt sich naiv bei den Fragen, da die Antwort ist, ganz offenkundig: Menschen fügen dieses anderen Menschen zu. Nicht nur in den Konzentrationslagern der Nazis und in Abu Ghraib unter der Herrschaft Saddam Husseins. Auch Amerikaner tun das, wenn sie es dürfen. Wenn man ihnen sagt oder sie glauben macht, dass diejenigen, über die sie absolute Gewalt haben, es verdienen, misshandelt, erniedrigt und gequält zu werden. Sie tun es ihnen an, wenn sie dazu gebracht werden, zu glauben, dass die von ihnen gequälten Menschen einer unterlegenen, verabscheuungswürdigen Rasse oder Religion angehören. Denn die Bedeutung dieser Bilder ist nicht allein, dass diese Handlungen begangen wurden, sondern auch, dass die Gräueltäter kein Gefühl dafür hatten, dass irgendetwas mit dem, was die Bilder zeigen, falsch sei. Noch entsetzlicher, dass die Bilder dazu bestimmt waren, herumgereicht und von vielen Menschen gesehen zu werden, es war alles ein großer Spaß. Und diese Idee von Spaß steht, leider Gottes, mehr und mehr im Gegensatz zu dem, was Mr. Bush der Welt erzählt – Teil „der wahren Natur und des Herzens Amerikas“.

Es ist schwierig, den Umfang der zunehmenden Akzeptanz für Brutalität im Leben Amerikas einzuschätzen, doch sind die Anzeichen dafür allgegenwärtig, beginnend mit den Killer-Spielen, der wichtigsten Unterhaltung männlicher Jugendlicher, bis zu der weit verbreiteten Gewalt, die in jugendlichen Gruppen-Ritualen den außerordentlichen Kick bringen soll. Von den üblen Quälereien, die neuen Schülern in vielen amerikanischen Vorstadt-Oberschulen zugefügt werden – dargestellt in Richard Linklater's Film “Dazed and Confused“ [etwa „Benommen und verwirrt“ – d. übbers.] (1993) – bis zu den Ritualen physischer Brutalität und sexueller Erniedrigung, die in der Kneipenkultur der Unterschicht zu finden ist, institutionalisiert in unseren Colleges und Universitäten als „Hazing“ [Initialisierung-Riten – lt. „Webster’s Dictionary“: „... often in the nature of humiliating or painful ordeals...“ – „... oft in der Art von erniedrigenden oder schmerzhaften Quälereien ...“ – d. Übers.] - Amerika ist zu einem Land geworden, in dem Fantasien und Anwenden von Gewalt zunehmend als gute Unterhaltung, als großer Spaß angesehen werden.

Was früher als Ponografie ausgegrenzt wurde, wie das Ausleben extremer sado-masochistischer Neigungen – wie in Pasolinis letztem, kaum anschaubaren Film, „Salò“ (1975), mit Darstellungen von Folterorgien in dem faschsitischen Zufluchtsort [Salò am Gardasee – d. Übers.] in Norditalien am Ende der Mussolini-Ära – wird heute von den Aposteln des neuen kriegslüsternen imperialen Amerika als temperamentvolles Abziehen einer Show oder Ausleben der Gefühle normalisiert. „Nackte Menschen zu stapeln“ sei wie die Show einer College-Verbindung, äußerte ein Anrufer gegenüber Rush Limbaugh und vielen Millionen Amerikanern, die seiner Radiosendung zuhörten.
Hatte der Anrufer, fragt man sich, die Fotos gesehen? Macht nichts. Die Beobachtung, oder ist es die Fantasie, traf den Punkt. Was vielleicht noch geeignet war, einige Amerikaner zu erschrecken, war Limbaughs Antwort. „Genau meine Meinung. Das unterscheidet sich nicht von dem, was bei den Aufnahmeriten der „Skull and Bones“ [„Schädel und Knochen“ - „berühmteste“ und exklusivste US-„Studenten-Verbindung“ der Yale-Univ., eigentlich ein Elite-Geheimorden, z.Z. prominentester „Bruder“ George W. Bush – d. Übers.] passiert, und wir sind dabei, dafür das Leben von Menschen zu ruinieren und unsere militärischen Anstrengungen zu beeinträchtigen und dann fangen wir noch an, richtig auf sie einzuschlagen, weil sie sich amüsierten. „Sie“ sind die amerikanischen Soldaten, die Folterer. Und Limbaugh fuhr fort. „Sie wissen, dass täglich auf diese Leute geschossen wird. Ich rede über Leute, die sich amüsiert haben, diese Leute. Haben Sie je von emotionalem „Dampf ablassen“ gehört?“


Es ist wahrscheinlich, dass eine ziemlich große Anzahl Amerikaner eher denkt, dass es in Ordnung ist, zu foltern und andere menschliche Wesen zu erniedrigen – die, als unsere vermeintlichen Feinde oder als solche Verdächtigte, alle ihre Rechte verwirkt haben – als die Torheit, Unangemessenheit und den Betrug des amerikanischen Wagnisses im Irak einzugestehen. Was Folter und sexuelle Quälereien als Spaß angeht, scheint sich wenig gegen diese Tendenz zu wenden, solange Amerika fortfährt, sich in einen Garnison-Staat zu verwandeln, in dem Patrioten dadurch definiert werden, dass sie einen bedingungslosen Respekt vor der bewaffneten Macht und der Notwendigkeit maximaler politischer Überwachung im Lande haben. Schrecken und Furcht drohte unser Militär jenen Irakis an, die sich ihren amerikanischen Befreiern widersetzen. Und Schrecken und Furchtbares sind es, was diese Fotos der Welt ankündigen, dass die Amerikaner geliefert haben: Ein Schema verbrecherischen Verhaltens in offener Verletzung und Missachtung internationaler Menschenrechts-Konventionen.
Doch es scheint sich vorläufig keine Umkehr abzuzeichnen in Amerikas Festlegung auf Selbstrechtfertigung und die stillschweigende Billigung seiner zunehmend außer Kontrolle geratenen Kultur der Gewalt. Jetzt posieren Soldaten mit hoch gehaltenen Daumen vor den von ihnen begangenen Gräueltaten und schicken die Fotos an ihre Kumpels und ihre Familie. Mit diesen Fotos werden nicht nur eine Kultur der Schamlosigkeit bloßgestellt, sondern auch die herrschende Bewunderung einer nicht zu entschuldigenden Brutalität. In unserer Gesellschaft würde man früher alles darum gegeben haben, Geheimnisse des Privatlebens zu verbergen, um deren Enthüllung in einer Fernsehshow man sich heute eifrig bemüht.

Die Vorstellung, dass „Entschuldigungen“ oder Bekenntnisse von „Ekel“ und „Abscheu“ seitens des Präsidenten und des Verteidigungsministers eine zufriedenstellende Reaktion sind auf die systematische Folterung und Ermordung von Gefangenen, die Abu Ghraib aufgedeckt wurden, ist eine Beleidigung des geschichtlichen und moralischen Bewusstseins. Das Foltern von Gefangenen ist keine Verirrung. Sie ist eine direkte Folge der Doktrinen des weltweiten Kampfes, mit denen die Bush-Administration einen grundlegenden Kurswechsel der US-Innen- und Außenpolitik anstrebte. Die Bush-Regierung hat das Land auf eine neue, pseudo-religiöse Doktrin des Krieges, eines immerwährenden Krieges, festgelegt – denn der „Krieg gegen den Terror“ ist nichts weniger als das. Was in dem neuen, vom US-Militär betriebenen, internationalen Gefängnis-Imperium geschehen ist, geht sogar über die berüchtigten Prozeduren auf Frankreichs Teufelsinsel oder im Gulag-System der Sowjetunion hinaus. Im Falle der französischen Strafkolonie gab es wenigstens noch Gerichtsverfahren und Urteile, im sowjetischen Gefängnis-Imperium eine Art Anklage und ein Urteil über eine bestimmte Anzahl Jahre Haft. Ein Krieg ohne Ende ermöglicht eine Einkerkerung ohne Ende – ohne Anklagen, ohne Bekanntgabe der Namen der Gefangenen oder irgendeinen Zugang zu Familienmitgliedern oder Anwälten, ohne Gerichtsverfahren, ohne Urteile. Die im außer-gesetzlichen amerikanischen Straf-Imperium Festgehaltenen sind „Verhaftete“; „Gefangene“, ein neuerdings veraltetes Wort, könnte glauben lassen, dass sie durch internationales Recht und die Gesetze aller zivilisierten Länder garantierte Rechte besitzen. Dieser endlose „Krieg gegen den Terror“ führt zwangsläufig zur Dämonisierung und Entmenschlichung eines jeden, der von der Bush-Regierung zu einem möglichen Terroristen erklärt wird: Eine Definition, über die nicht zu diskutieren ist. Ein zeitlich unbegrenzter Krieg legt unvermeidlich die Angemessenheit zeitlich unbegrenzter Inhaftierung nahe.

Anklagen gegen die meisten der in Gefängnissen des Irak und Afghanistans festgehaltenen Menschen gibt es nicht – das Rote Kreuz schätzt, dass 70 bis 90 Prozent der Eingesperrten anscheinend kein anderes Verbrechen begangen haben, als einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, eingefangen mit einem Schwarm „Verdächtiger“ – die häufigste Begründung, sie festzuhalten, ist „Vernehmung“. Vernehmung über was? Über alles. Was auch immer der Festgenommene wissen könnte. Falls Vernehmungen der Grund für das zeitlich unbegrenzte Festhalten Gefangener sind, werden physischer Zwang, Erniedrigung und Folterung unvermeidlich.

Man erinnere sich: Wir sprechen nicht über die am seltensten vorkommende Situation, das Szenario der „tickenden Bombe“, das gelegentlich als Grenzfall, der Folter von Gefangenen rechtfertigt, genutzt wird. Hier geht es um das Sammeln von Informationen, authorisiert von amerikanischem Militär- und Verwaltungsperonal, um mehr über ein Schattenreich von Übeltätern zu erfahren. Über dieses wissen die Amerikaner so gut wie nichts, in Ländern, über die sie beispiellos un-informiert sind – so, dass jede „Information“ von Nutzen sein könnte. Eine Vernehmung, bei der keine Infomation herauskommt (was auch immer die Information sein mag), würde als Versagen zählen. Um so mehr eine Rechtfertigung, Gefangene dazu zu bringen, zu reden. Sie weich klopfen, sie entspannen – das waren die üblichen Schönfärbereien für die barbarischen Praktiken, die in amerikanischen Gefängnissen grassieren, in denen „des Terrorismus Verdächtige“ festgehalten werden. Leider, so scheint es, wurden nicht nur einige wenige „zu sehr entspannt“ und starben.

Die Bilder wollen nicht verschwinden. Das ist die Natur der digitalen Welt, in der wir leben. Sie scheinen wirklich nötig gewesen zu sein, unsere politischen Führer dazu zu bringen, zuzugeben, dass sie ein Problem am Hals hatten. Schließlich waren der Bericht des Internationalen Roten Kreuzes und andere, lückenhaftere, von Journalisten sowie Proteste von Menschenrechtsorganisationen über die grauenhaften Bestrafungen von „Inhaftierten“ und „des Terrorismus Verdächtigen“ in vom amerikanischen Militär geführten Gefängnissen bereits seit mehr als einem Jahr im Umlauf. Es erscheint zweifelhaft, dass irgendwelche dieser Berichte von Mr. Bush, Mr. Cheney, Ms. Rice oder Mr. Rumsfeld gelesen wurden. Anscheinend brauchte es die Fotos, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, als sich herausstellte, dass sie nicht unterdrückt werden konnten; es waren die Fotos, durch die all dieses für Mr. Bush und seine Kompagnons zur Realität wurde.Bis dahin gab es nur Worte, die in unserem Zeitalter der unbegrenzten Selbst-Reproduktion und Selbst-Verbreitung viel leichter zu verschleiern sind.

So werden jetzt die Bilder uns weiterhin angreifen - wie manche Amerikaner meinen, fühlen zu müssen. Werden sich die Menschen an sie gewöhnen? Manche Amerikaner sagen bereits, sie hätten „genug“ gesehen. Nicht jedoch der Rest der Welt. Endloser Krieg: Ein endloser Strom von Fotos. Werden amerikanische Zeitungen, Magazine und Fernsehredakteure jetzt diskutieren, ob sie mehr davon zeigen, oder ob sie sie unbeschnitten zeigen (was bei einigen der bekanntesten Bilder eine abweichende und in manchen Fällen abstoßendere Sicht auf die in Abu Ghraib verübten Gräuel ergibt), vielleicht sind sie „geschmacklos“ oder zu betont politisch? „Politisch“ ist zu interpretieren lesen als „kritisch gegenüber der Bush-Regierung“. Denn es kann keine Zweifel geben, dass, wie Mr. Rumsfeld bestätigte, die Fotos das Ansehen der „rechtschaffenen Männer und Frauen der Streitkräfte, die weltweit tapfer, verantwortungsvoll und professionell unsere Freiheiten schützen“, beschädigen.
Vor allem diesen Schaden – an unserem Ansehen, unserem Image, unserem Erfolg als Weltmacht – beklagt die Bush-Regierung. Wie es dazu kam, dass es der Schutz „unserer Freiheiten“ – und er spricht hier über die Freiheit lediglich der Amerikaner, 6 Prozent der Bevölkerung des Planeten – erfordert, amerikanische Soldaten in jedem Land zu haben, für dass man sich entscheidet („rund um den Erdball“), steht auch nicht zur Debatte. Amerika wird angegriffen. Amerika sieht sich selbst als Opfer möglichen oder zukünftigen Terrors. Amerika verteidigt nur sich selbst gegen erbarmungslose verschlagene Feinde.

Der Gegenschlag hat begonnen. Die Amerikaner werden gewarnt, sich einer Orgie von Selbst-Verurteilung hinzugeben. Die andauernde Veröffentlichung der Bilder wird von manchen Amerikanern so angesehen, als würde unterstellt, wir hätten nicht das Recht, uns zu verteidigen. Schließlich haben sie (die Terroristen, die Fanatiker) angefangen. Sie – Osama bin Laden? Saddam Hussein? Was ist der Unterschied? – griffen uns zuerst an. James Inhofe aus Oklahoma, republikanisches Mitglied des Congress-Ausschusses für die Streitkräfte, vor dem Minister Rumsfeld aussagte, bekannte sich dazu, dass er sicher sei, nicht das einzige Mitglied des Ausschusses zu sein, das empört sei über die Gräuel, die die Fotos zeigen. „Diese Gefangenen,“ erklärte Senator Inhofe, „das wissen Sie, sind nicht dort wegen Verkehrsverstößen. Wenn sie im Zellenblock 1-A oder 1-B sind, sind diese Gefangenen Mörder, sie sind Terroristen, sie sind Aufständische. Viele von ihnen haben wahrscheinlich amerikanisches Blut an ihren Händen, und wir sind hier so besorgt über die Behandlung dieser Individuen.“ Es ist das Fehlverhalten „der Medien“, – üblicherweise als „die liberalen Medien“ bezeichnet – das weltweit weitere Gewalt gegen Amerikaner herausfordert und auch weiterhin herausfordern wird. Mehr Amerikaner werden sterben. Wegen dieser Fotos.

Es gibt natürlich eine Anwort auf diesen Vorwurf. Nicht wegen der Fotos, sondern wegen des Geschehens, das die Fotos aufdecken, des Geschehens auf Geheiß von und mit der Komplizenschaft einer Kommandokette, die bis in die höchsten Ebenen der Bush-Regierung reicht. Doch der Unterschied - zwischen Foto und Realität, zwischen Politik und dem Wirbel – verschwindet leicht aus den Köpfen der Menschen. Das ist es, was die Regierung sich wünscht,dass es passiert.

„Es existieren viel mehr Fotos und Videos,“ gab Mr. Rumsfeld in seiner Aussage zu. „Würden diese für die Öffentlichkeit freigegeben, würde dies offensichtlich die Lage verschlechtern.“ Schlechter für die Vereinigten Staaten und ihre Programme vermutlich. Nicht für die eigentlichen Opfer der Peinigungen. Die Medien als Selbst-Zensoren, wie es ihre Gewohnheit ist. Doch, wie Mr. Rumsfeld zugab, ist es schwierig, Zensur über Soldaten in Übersee auszuüben, die nicht wie in alten Zeiten Briefe nach Hause schreiben, die von Militär-Zensoren geöffnet werden und in denen unannehmbare Zeilen geschwärzt werden konnten, sondern die geradezu wie Touristen „mit Digital-Kameras umherlaufen und diese unglaublichen Fotos schießen, die sie dann, gesetzwidrig und zu unserer Überraschung, an die Medien geben“. Die Bemühungen der Regierung, Bilder zurückzuhalten, werden anhalten, jedoch – die Begründung bekommt einen mehr legalistischen Anstrich: Jetzt sind die Fotos „Beweise“ in zukünftigen Strafverfahren, deren Ausgang präjudiziert sein könnte, falls die Fotos in die Öffentlichkeit kommen. Der wirkliche Anstoß, den Zugang zu den Fotos zu begrenzen, wird jedoch aus den andauernden Bemühungen kommen, die Bush-Regierung und ihre Politik zu schützen – „Empörung“ über die Fotos gleichzusetzen mit einer Kampagne, die amerikanische Militärmacht und die Absichten, denen sie gegenwärtig dient, zu untergraben. Gerade so, wie es von vielen als eine unausgesprochene Kritik am Kriege angesehen wurde, im Fernsehen Fotos amerikanischer Soldaten zu zeigen, die während des Einmarsches und der Besetzung des Irak getötet wurden, wird es zunehmend als unpatriotisch verstanden werden, die bizarren Fotos zu verbreiten und den Ruf Amerikas – das heißt, das Image - zu beflecken und zu beschmutzen.

Schließlich befinden wir uns im Kriege. In einem Krieg ohne Ende. Und Krieg ist die Hölle. Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer. Hey, wir amüsierten uns doch nur. In unserem digitalen Spiegelsaal werden die Bilder nicht verschwinden. Ja, wie es scheint, ist ein Bild soviel wert wie tausend Worte. Und es wird Tausende weiterer Fotos und Videos geben. Unaufhaltsam. Wird das Video-Spiel „Hazing at Abu Ghraib“ oder „Interrogating the Terrorists“ noch lange auf sich warten lassen?

© Susan Sontag 2004

Zur Quelle:
http://www.duckdaotsu.org/sontag_what_have_we_done.html

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