"Sagt nicht, Ihr hättet nichts gewusst …"
Internationale Friedensaktivisten und israelische Journalisten konfrontieren
die Gesellschaft Israels mit den alltäglichen Verbrechen der Besatzungsmacht

von Ulrike Vestring, Bonn, 12. 04. 03

"…ich bin froh, dass sie umgekommen ist. Wie kommt dieses Hühnchen aus Amerika dazu, sich hier in unsere Angelegenheiten einzumischen? …Solchen Leuten muss man eine Lehre erteilen. Ist dies etwa ihr Land?" Mit diesen Worten kommentierte der israelische Taxifahrer Yehuda G. den Tod der jungen amerikanischen Friedensaktivistin Rachel Corrie, die Mitte März im Süden des Gaza-Streifens von einem Bulldozer der israelischen Armee zermalmt wurde. Sie hatte versucht, die Zerstörung eines palästinensischen Wohnhauses zu verhindern.

Inzwischen erteilte die israelische Armee die Lehre, für die sich Yehuda G. aussprach : drei Wochen nach Rachels Tod wurde Brian Avery, ein weiterer amerikanischer Friedensaktivist, in Dschenin durch gezielte Schüsse lebensgefährlich verletzt (siehe jW v. 8. 04. 03). War auch er ein unliebsamer Beobachter? Ein unbequemer Zeuge? Wie Rachel hatte er sich der "Internationalen Solidaritätsbewegung ISM" angeschlossen, in der Menschen aus aller Welt versuchen, der Zivilbevölkerung in Palästina beizustehen und sie vor Übergriffen zu schützen.

Am 11. April wurde in Rafah ein weiteres ISM-Mitglied, Tom Hurndall, von israelischen Schüssen tödlich getroffen (siehe jW vom 12.4.03). Über den Hergang gibt es leicht voneinander abweichende Berichte. Indessen scheint festzustehen, dass der 21jährige Engländer einer Gruppe von Kindern - keins davon älter als zehn - zur Hilfe kommen wollte, die beim Spielen in das Schussfeld eines israelischen Panzers geraten waren. Es gelang Tom, einen Jungen in Deckung zu bringen; als er versuchte, zwei kleine Mädchen in Sicherheit zu bringen, wurde er von einem in einem Wachtturm postierten Scharfschützen in den Hinterkopf geschossen. Mehrere Augenzeugen haben erklärt, es habe sich nicht um einen Schusswechsel israelischer Soldaten mit bewaffneten Palästinensern gehandelt. Der verletzte Friedensaktivist liegt inzwischen in einem Krankenhaus in Beersheva; er gilt als klinisch tot.

Die Palästinenser, so erklärt ISM, haben ein völkerrechtlich gesichertes Recht auf Widerstand gegen die israelische Besatzungsgewalt. Die ISM-Aktivisten selbst - sie stammen aus Europa, aus den USA, aus Japan, aus Südafrika - fühlen sich dem Prinzip der Gewaltlosigkeit verpflichtet; sie sind überzeugt, dass gewaltfreier Widerstand ein wirksames Mittel im Kampf gegen Unterdrückung darstellt, vor allem auch dann, wenn es diesem Widerstand gelingt, die Menschenrechtsverletzungen der Besatzungsarmee öffentlich zu machen und ihren Opfern eine Stimme zu geben.

Rachel Corrie, 23, und wahrscheinlich auch Tom Hurndall, 21, haben ihre Mission mit dem Leben bezahlt, ihr Kamerad Brian Avery, 24, wird von seinen schweren Verletzungen gezeichnet bleiben. Die israelische Armee spricht weiter von Unfällen, die die Betroffenen selbst verschuldet hätten.

Nichts sehen, nichts hören

Die gehässigen Worte des Taxifahrers in Tel Aviv - eine Einzelstimme? Die israelische Gesellschaft, zu deren Schutz modernste Waffen, Panzer und Bulldozer gegen die palästinensische Zivilbevölkerung eingesetzt werden, betrachtet jeden, der Besatzung in Frage stellt, als Vaterlandsverräter. Das gilt für Friedensorganisationen wie Gush Shalom (Uri Avnery), das Komitee gegen Hauszerstörungen (Jeff Halpert) oder Bat Shalom (Gila Svirsky). Die unerschrockene Journalistin Amira Hass, die seit Jahren nicht nur aus den besetzten Gebieten berichtet, sondern auch dort lebt, kommt zwar in der linksliberalen Zeitung Ha'aretz zu Wort, wird aber neuerdings in Israel bedroht.

Das Wegsehen und Weghören wird schwieriger: kürzlich mutete die populäre Zeitung Ma'ariv ihren Lesern in der Wochenendausgabe (28.3.03) einen schockierenden Einblick in das Alltagsleben der Palästinenser zu. Unter der Überschrift "Ich war ein menschliches Schutzschild" berichtete die Journalistin Billie Moskona-Lerman über einen Aufenthalt in der Stadt Rafah. Vierundzwanzig Stunden in Rafah, wo auch Rachel Corrie starb. Seitdem, sagt Billie, sei sie nicht mehr dieselbe. "24 Stunden können einen ganz schön älter machen. …"

Incognito im eigenen Land unterwegs

Billie Moskona-Lerman hat ihre Recherche in Rafah sorgfältig vorbereitet. Am Grenzposten Erez, der den Gazastreifen von Israel trennt, wird sie von ihrem palästinensischen Begleiter Abu Rahma in Empfang genommen. Er ist Kollege, ein bekannter und auch international gefragter Fotograf, seit er das Martyrium des zwölfjährigen Palästinenserjungen dokumentierte, der zu Beginn der zweiten Intifada in ein Feuergefecht zwischen bewaffneten Palästinensern und israelischen Soldaten geriet und in den Armen seines Vaters starb.

"Ab sofort darfst Du kein Wort Hebräisch mehr sprechen", instruiert Abu Rahma seine Kollegin, als sie zu ihm ins Auto steigt. "Vergiss nicht, hier bist Du eine französische Journalistin. Niemand darf wissen, dass Du Israelin bist." Die Fahrt geht nach Süden, vorbei an den verlassenen und verfallenen Hotels und Restaurants entlang der einst touristisch belebten Strände von Gaza.

"Was machen all diese Kinder hier?" fragt Billie kurz vor einem weiteren Checkpoint. Ganz einfach: die Israelis lassen dort nur Autos durch, die mindestens drei Personen an Bord haben. Die Kinder verdingen sich als Mitreisende und kassieren einen Shekel. Auf der anderen Seite steigen sie aus und verdienen auf der Rückfahrt einen weiteren Shekel. Überlebenstaktik in einem zusammengebrochenen Wirtschaftssystem.

Die Stadt Rafah am südlichen Ende des Gazastreifens mit ihren 140.000 Einwohnern kommt Billie wie ein einziges riesiges Flüchtlingslager vor. Selbst im Armenhaus Gaza ist dies der ärmste, elendste und von dieser Intifada am meisten betroffene Ort: 250 Todesopfer, die Hälfte davon Kinder.

Der palästinensische Fotograf führt seine "französische Kollegin" bei den sieben ISM-Freiwilligen ein, die wenig geneigt sind, einer weiteren Medienvertreterin vom Tod ihrer Kameradin Rachel Corrie zu erzählen. Billie spürt, dass sie mehr als die vorgesehenen zwei Stunden braucht, um zu verstehen, was hier geschieht. "Hol mich morgen wieder ab" - mit diesen Worten verabschiedet sie ihren palästinensischen Kollegen. Im Internet-Cafe findet sie einen neuen Begleiter und Dolmetscher, den achtzehnjährigen Muhammad, der für seine Heimatstadt eine eigene Internet-Seite unterhält. Dort dokumentiert er, wie er sagt, "die Tragödien, die hier täglich passieren." (www.rafah.vze.com)

Rafah, eine Stadt im Kriegsgebiet

Auf Anraten von Muhammad bedeckt die vermeintliche Französin ihr Haar mit einer schwarz-weiß-karierten ‚Keffiya', die sie rasch im Basar ersteht. Auf einem ersten Rundgang, der wegen der allgegenwärtigen israelischen Panzer und Wachttürme teilweise kriechend zurückgelegt wird, erklärt der junge Mann die Situation von Rafah. Bei der Rückgabe der Sinai-Halbinsel 1982 fiel ein Teil der Stadt an Ägypten; seit mehr als zwanzig Jahren ist Rafah eine geteilte Stadt. Um den Schmuggel über die Grenze und auch den Rückzug von Hamas- und Dschihad-Kämpfern auf ägyptisches Gebiet zu unterbinden - angeblich benutzen sie dafür auch Tunnel - errichtet die israelische Armee zusätzlich zu den Wachttürmen und anderen Grenzbefestigungen jetzt eine 14 Meter hohe Mauer. Dem Niemandsland davor müssen die Häuser der Flüchtlinge weichen.

Mit Druck und Gewalt wird versucht, die Menschen zum Aufgeben ihrer Häuser zu bewegen. Als letztes Mittel rücken die Bulldozer an, gigantische Maschinen, die Mauern und Wände eindrücken. Oft bleibt den Bewohnern nicht einmal Zeit, wenigstens etwas von ihrer Habe zu retten, manche retten nicht einmal das Leben. 602 Häuser, berichtete das Flüchtlingskomitee in Rafah, seien bis März völlig zerstört worden, die Zahl der beschädigten Häuser sei noch erheblich größer. Geht man von einer durchschnittlichen Familiengröße von acht bis zehn Personen aus, so sind mehrere tausend Menschen obdachlos geworden. Für die meisten war ihr Haus der einzige Besitz, und bei der extrem hohen Arbeitslosigkeit im Gazastreifen haben die wenigsten die Mittel, um neu zu mieten oder zu bauen. Viele leben in Zelten.

In dieser Notlage wollen die Freiwilligen der Solidaritätsbewegung den Menschen beistehen. Damit sie dabei weder naiv noch leichtsinnig handeln, werden alle neu ankommenden Freiwilligen auf ihren Einsatz vorbereitet. Von einem solchen Training und seinen Teilnehmern berichtet ein anderer israelischer Journalist, Orly Halper. Wie man es vermeidet, erschossen zu werden, wie eine Gruppe in Sekundenschnelle Entscheidungen trifft, was man bei der Polizei auf keinen Fall sagen sollte - das lernen ISM-Aktivisten, bevor sie zum ersten Mal bei einer gewaltfreien Aktion zum Schutz palästinensischer Zivilisten mitwirken. Das kann in der Nähe von Ramallah sein, wo ISM-Aktivisten versuchen, den Bau einer Mauer zu verhindern, die zum Schutz einer israelischen Siedung mitten durch die Olivenplantagen der palästinensischen Bauern gezogen werden soll (vergl. Interview mit einem Schweizer Friedensaktivisten in jW v. 8.4.03). Oder in Nablus, wo sich Freiwillige gemeinsam mit den Einheimischen den permanenten Ausgangssperren widersetzen, oder in Dschenin, wo vor kurzem der junge Amerikaner schwere Schussverletzungen erlitt.

Auch einen Einblick in palästinensische Kultur erhalten die Aktivisten im Schnellverfahren, und aus Respekt für die Sitten ihrer Gastgeber müssen sich alle verpflichten: "Während des Einsatzes - zwei Wochen bis zwei Monate - kein Alkohol, keine Drogen, kein Sex."

Techniken des gewaltfreien Widerstands

Wichtig ist bei allen Aktionen, dass sie von der jeweiligen Gruppe gemeinsam beschlossen, vorbereitet und durchgeführt werden. Dabei hat jeder seine Rolle - Dokumentation per Foto oder Video, Pressekontakte, Notfallversorgung. Physische oder verbale Gewalt sind verboten, und auf keinen Fall dürfen die Aktivisten sich umdrehen und weglaufen. "Wer rennt, läuft Gefahr, beschossen zu werden. Setzt Euch hin!"

Welche erstaunliche Ruhe und Kaltblütigkeit ISM-Angehörige im Angesicht unmittelbarer Lebensgefahr aufbringen, macht ein Bericht aus Rafah deutlich, den die israelische Menschenrechtsorganisation Gush Shalom Anfang April Woche unter dem Titel ‚Die Schlacht von Tel Zorab' veröffentlichte. Unter dem Schutz eines israelischen Panzers hatten die gepanzerten Bulldozer, die inzwischen traurige Berühmtheit erlangt haben, mit der Zerstörung von Häusern begonnen, unter den Augen ihrer ohnmächtigen und verängstigten Bewohner. In ihrer reflektierenden orangefarbenen Schutzkleidung und mit Spruchbändern bewegten sich die ISM-Aktivisten langsam auf die Bulldozer zu. Einer der Fahrer stieg aus und brüllte ihnen zu, dies sei sein Land, und sie hätten hier nichts zu suchen. Ganz im Gegenteil, gaben die Aktivisten zurück, dieses Land gehöre ihm keineswegs, sie seien Zivilisten in einem Wohngebiet, und er als Soldat habe hier nichts zu suchen.

Der Nervenkrieg ging weiter: langsam vorrückende Bulldozer, vier wie angewurzelt stehende Friedensaktivisten, denen die Panzerbesatzung über die Köpfe und vor die Füße schoss. Ihre Kameraden versuchten indessen per Telefon, die Konsularbehörden der Herkunftsländer zu alarmieren. Ein Vertreter des US-Konsulates erklärte klipp und klar, er werde seinen Staatsangehörigen nicht helfen; sie hätten ihren Anspruch auf konsularische Hilfe dadurch verwirkt, dass sie entgegen den Warnungen des State Department in die besetzten Gebiete eingereist seien.

Etwas später fuhr ein gepanzertes Fahrzeug der israelischen Armee auf. Soldaten versuchten, die Friedensaktivisten zu verhaften. Die suchten Schutz in der Nähe der Palästinenser, von denen einige bewaffnet waren. Die Israelis blieben deshalb in Deckung, die Bulldozer blieben stehen - und so blieb die Hauszerstörung blockiert, bis es dunkel wurde. Die Freiwilligen blieben - für diesmal - unverletzt.

Der Feind ohne Gesicht

"Während meines 24-stündigen Aufenthaltes in Rafah", schreibt die israelische Journalistin Billie Moskona-Lerman, "habe ich keinen einzigen israelischen Soldaten von Fleisch und Blut gesehen. Die Israelis bleiben in ihren Bulldozern, gigantischen Ungetümen mit undurchsichtigen Scheiben. In ihren Wachttürmen und Panzern. Versteckt hinter Tonnen von Stahl in Tarnfarben, die plötzlich Feuer speien. Ein Feind ohne Gesicht, unwirklich, unnahbar, unmenschlich."

Ihnen gegenüber die Palästinenser, denen Billie in den schmutzigen Straßen von Rafah begegnet. Viele von ihnen zerlumpt, barfuß, offensichtlich arm. In den Gesichtern die Spuren von Sorgen, Angst, Leid und Mangelernährung. Mit 45 sehen sie alt aus. Auf der Suche nach irgendeiner Arbeit. Es gibt keine Arbeit. Männer, Frauen, Kinder leben zusammengequetscht in engen Häusern, auf kleinen Grundstücken.

Mit diesen Eindrücken kehrt Billie zu den Freiwilligen zurück. Joe und Laura fragen, ob sie mit ihnen zum Einsatz gehen will. Ja, sagt sie, und weiß doch nicht, worauf sie sich einlässt. Abends gegen acht wandern die drei zu Fuß zu einem der letzten Häuser vor der Grenze zwischen Israel und Ägypten. in orangefarbenen Westen mit reflektierenden Streifen. Als sie sich dem israelischen Wachtturm nähern, nimmt Billie die Hände hoch wie ihre Begleiter. Jetzt bloß nicht rennen.

"… ich muss Euch die Wahrheit sagen …"

Wenige Schritte vor dem Turm schubst Laura Billie in einen dunklen Hauseingang "Hier ist es", und Billie tastet sich im Dunklen voran. Es geht eine Treppe hinauf, durch eine Tür, und dann sagt ein lächelnder Mann "Ahlan wa sahlan - herzlich willkommen." Sie sind am Einsatzort für diese Nacht angelangt, im Haus von Jamil und Nora und ihren drei kleinen Kindern. Der Beschuss setzt unmittelbar ein. Das, bekommt Billie erklärt, dient der Einschüchterung: die israelischen Soldaten wollen Jamil und seine Familie dazu bewegen, das Haus aufzugeben. Sie leben als einzige noch in der Gegend, weil sie kein Geld haben, woanders hin zu ziehen. Vor kaum zwei Wochen hat Rachel Corrie hier mit ihnen gewacht, ihr Bild hängt an der Wohnzimmerwand. Billie hockt mit zitternden Knien zwischen Jamil und Nora mit dem jüngsten Kind am Boden, ihr Herz rast und ihre Zähne klappern. Jamil sagt: "Was sollen wir machen? Wenn Allah will, dass unsere Zeit gekommen ist, dann sterben wir. Es liegt alles in seiner Hand." Billie beruhigt das nicht.

Als der Beschuss einmal aussetzt, zeigt die Familie der Journalistin die Einschusslöcher: in der Küche, über dem Esstisch, direkt neben den Betten der Kinder. Morgens verputzt Jamil jeweils die schlimmsten Spuren. Nachts um halb zwei beginnt der Beschuss wieder und dauert bis viertel nach vier am Morgen. Laura und Joe schützen mit ihren Körpern die zwei etwas älteren Kinder, das Kleinste liegt weiter im Arm der Mutter. Billie denkt an ihre Söhne, Wehrpflichtige in der israelischen Armee. Könnten sie in einem der Panzer da draußen sitzen?

Jamil, der von Beruf Koch ist, geht mitten im Kugelhagel hin und macht Essen für alle: Omelette und Salat, dazu Fladenbrot. Es ist Mitternacht, und Billie fragt sich, ob sie den nächsten Tag erleben wird. Da beschließt sie, ihre Karten auf den Tisch zu legen: "Ich muss Euch die Wahrheit sagen. Ich bin eine israelische Journalistin aus Tel Aviv." Einen Augenblick sind alle still, dann lächelt Jamil und erzählt in fließendem Hebräisch, in welchen Restaurants in Herzlia und in Netanya er gearbeitet hat. Und dass er im Restaurant Little Tel Aviv am liebsten Kirscheis gegessen hat. Gibt es das noch?

Auf einmal müssen alle lachen. Drei kleine Kinder, zwei Amerikaner, ein palästinensisches Ehepaar und eine Israelin im Kreis um eine große Schüssel Salat. Kugeln pfeifen ihnen um die Ohren, und sie lachen. Laura, die amerikanische Friedensaktivistin, sagt, sie sei auch Jüdin, und sogar strenggläubig. Und es gibt eine weitere Jüdin in der ISM-Gruppe, Alice, die Engländerin, die Billie mit so großem Misstrauen begegnet ist.

Ein großer starker Vogel mit gebrochenen Flügeln

Am nächsten Morgen nimmt die Journalistin aus Tel Aviv im Quartier der Freiwilligen an der Einsatzbesprechung für den nächsten Abend teil. Joe zeigt ihr die Fotos, die er von Rachels Tod gemacht hat. Wie immer bei diesen Einsätzen sitzt Rachel in ihrer reflektierenden Weste auf dem Schutt- und Sandberg, den der Bulldozer vor sich herschiebt. In der Hand hält sie ein Mikrofon und versucht mit dem Fahrer zu reden. Natürlich kann man dabei das Gleichgewicht verlieren, aber bisher hat der Bulldozer immer im letzten Augenblick angehalten und abgedreht. Aber an diesem Tag nicht. Auf den Fotos sieht Billie, wie Rachel in den Tod fällt. Wie ein großer starker Vogel, der eben noch fliegt, einen Schlag bekommt. Die Flügel einfaltet und langsam zu Boden sinkt. "Mein Rücken ist gebrochen." Das, sagt ihre Kameradin Alice, waren ihre letzten Worte. Dieselbe Alice, die jetzt ihren Landsmann Tom in die Arme nehmen musste, als er aus einem israelischen Panzer heraus in den Kopf geschossen wurde.

Wie halten diese jungen Leute das aus, fragt Billie. Nach 24 Stunden in Rafah kehrt sie nach Tel Aviv zurück. Sie ist, sagt sie, nicht mehr dieselbe. Wer hilft den jungen Freiwilligen, mit ihrer Angst, mit Schock und Trauer über den Verlust von Kameraden fertig zu werden? "Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch hierbleiben kann", sagt der Amerikaner Joe am Ende seines Berichtes über den Tod von Tom Hurndall. "Ich habe Rachels Tod noch nicht verarbeitet, und jetzt dies … Ich fühle mich auf einmal alt."

Fragt jemand, warum hier dauernd von Rachel Corrie und ihren Kameraden die Rede war, warum nicht von den 250 in Rafah getöteten Palästinensern, zum Beispiel den beiden 15 und 19 Jahre alten Brüdern, die einen Tag vor Tom Hurndall erschossen wurden? Warum nicht von den Tausenden, denen Armee-Bulldozer die Häuser zerstört haben? Die ISM-Aktivisten sind sich bewusst, dass sie sich in einem rassistischen System bewegen, ja, dass ihre Wirkung zu einem Teil auf diesem Rassismus beruht.

"Die Menschen hier möchten gehört werden," schrieb Rachel kurz vor ihrem gewaltsamen Ende in einem Brief nach Hause. "Und wir internationale Freiwillige sollten unsere Privilegien nutzen, um ihnen Gehör zu verschaffen.". Sie und ihre Kameraden haben genau das getan. Jetzt kann niemand mehr sagen, er hätte vom Leiden der Menschen in Rafah nichts gewusst. Dank Gush Shalom und Billie Moskona-Lerman von Maariv kann das auch in Israel niemand mehr sagen.

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Für diesen Bericht wurden folgende Quellen benutzt: Der Artikel "I was a Human Shield" von Billie Moskona-Lerman erschien in hebräischer Sprache in Ma'ariv vom 28.3.03. Eine englische Übersetzung veröffentlichte die israelische Friedensorganisation Gush Shalom http://www.gush-shalom.org.
Die Angaben über die Internationale Solidaritätsbewegung ISM stammen von der Internetseite der Organisation: http://www.palsolidarity.org
Der mit einem Bericht über ISM zitierte Journalist Orly Halper hat folgende Adresse: orly@haaretz.co.il.
Für die Fotos danke ich Muhammad, dem jungen Studenten aus Rafah, der sie auf seine Internetseite stellte:
http://www.rafah.vze.com.