Ein beklemmendes Bild. Felicia Langer über "Die Entrechtung der Palästinenser"

Felicia Langer: Die Entrechtung der Palästinenser. 40 Jahre israelische Besatzung. Lamuv: Göttingen 2006, 192 Seiten, 12 EUR, ISBN 10 3-88977-680-9

Im Juni 2007 jährt sich zum vierzigsten Mal der sog. Sechstagekrieg und damit der Beginn der seither anhaltenden Besatzung großer Teile jenes Landes, das der UNO-Teilungsplan von 1948 einem künftigen Staat der Palästinenser zugedacht hatte. Felicia Langer, israelische Menschenrechtsanwältin mit Wohnsitz in Deutschland und Trägerin des Alternativen Nobelpreises hat seit dieser Zeit gegen das Unrecht, das einem ganzen Volk angetan wird, gekämpft – in Israel, indem sie die Opfer von Besatzung und Willkür vor Gericht und in den israelischen Gefängnissen verteidigte, in Deutschland, wohin sie vor 17 Jahren emigrierte, indem sie als Schriftstellerin, Vortragsreisende und Kundgebungsrednerin ihre Stimme gegen das Unrechts- und Gewaltsystem erhebt.

Felicia Langer vergleicht das israelische Besatzungsregime gern mit dem früheren Apartheidsystem Südafrikas. In ein und demselben Gebiet gelten unterschiedliche Rechtssysteme: eines für die Siedler (und selbstredend für die Besatzungssoldaten) und das andere für die Palästinenser. Die vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag 2005 für völkerrechtswidrig erklärte Mauer z.B. trennt palästinensische Gemeinden voneinander (nicht unähnlich den ebenfalls nach dem Segregationsprinzip errichteten südafrikanischen „Bantustans“); die staatlichen Behörden in Jerusalem behandeln jüdische Einwohner im Westen der Stadt zuvorkommend und in klimatisierten Räumen, während die Palästinenser in Ostjerusalem oft stundenlang draußen in der Hitze anstehen müssen und sogar von Glück reden können, wenn sie noch am selben Tag abgefertigt werden (in Südafrika wurden den Weißen und Schwarzen beim Besuch staatlicher Ämter unterschiedliche Eingänge zugewiesen). Ein drittes Beispiel: Israel verweigert israelischen Bürgern aufgrund ihrer „Eigenschaft“ als Palästinenser Baugenehmigungen (auch in Südafrika wurden Baugenehmigungen je nach Rassezugehörigkeit erteilt oder verweigert). Und schließlich: Israel baut im Westjordanland mit Hochdruck an einem parallelen Straßennetz. Auf das sollen Palästinenser ausweichen, während viele bestehende und bessere Straßen nur von Juden benutzt werden dürfen (auch hier also Ähnlichkeiten mit dem auf Ausschluss und Isolation bedachten südafrikanischen Straßensystem des Apartheidregimes).

Das Buch ist so reich an illustrativen Beispielen für die Ungleichbehandlung der beiden Völker in Israel und den besetzten Gebieten, dass ein beklemmendes Bild entsteht. Ist das der Staat, der von und für Menschen errichtet worden war, deren Angehörige während der Nazizeit das Schrecklichste erlitten haben, was einem Volk nur angetan werden kann: die (fast vollständige) Vernichtung der Juden? Langer zitiert hierzu den legendären südafrikanischen Erzbischof Tutu, der 2002 sein Entsetzen über das heutige Israel in folgende Worte kleidete: „Juden zählten in unserem Kampf gegen die Apartheid zu unseren größten Unterstützern. Wie auch anders? Sie schlugen sich beinahe instinktiv auf die Seite der Entrechteten ... Ich habe mich immer stark mit den Juden identifiziert. ... Ich bin der Überzeugung, dass Israel ein recht auf sichere Grenzen hat. Wofür ich hingegen kein Verständnis habe und was nicht zu rechtfertigen ist, ist das, was Israel im Zuge der eigenen Existenzsicherung einem anderen Volk antut. Mein Besuch im Heiligen Land hat mich zutiefst erschüttert. Es hat mich so sehr daran erinnert, wie man mit uns Schwarzen in Südafrika umgesprungen ist.“ (S. 109)

So sehr das Unrecht des Besatzungsregimes den Alltag der Palästinenser prägt, Felicia Langer schildert in den 12 Kapiteln ihres Buches zahlreiche Episoden, in denen Hoffnung aufkeimt und die von den Chancen sprechen, die der herbei gesehnte Friedensprozess allen Menschen in Israel/Palästina bieten könnte. So ist beispielsweise von einem denkwürdigen Konzert des weltberühmten Dirigenten Daniel Barenboim die Rede, das 2005 in Ramallah zu Ehren des 2003 verstorbenen Intellektuellen Edward Said gegeben wurde. Barenboim – unlängst mit dem Hessischen Friedenspreis 2007 ausgezeichnet – dirigierte sein Orchester „West-Östlicher Diwan“, in dem Israelis, Palästinenser, Syrer, Ägypter, Jordanier, Libanesen und Europäer spielen. Die Aufführung und deren Begleitumstände schildert Felicia Langer so, als wäre sie selbst anwesend gewesen. Dabei verfolgte sie das Geschehen nur am heimischen Fernsehschirm. Und doch war sie dabei: Im Publikum erkannte sie ihren palästinensisch-amerikanischen Adoptivsohn Sami, mit dem sie noch am selben Abend per e-mail Kontakt aufnahm und sich mit ihm über das einzigartige Konzert austauschte. Zu dieser Geschichte gehört auch, dass Ellen Rohlfs, vielen Lesern als Übersetzerin unzähliger Artikel von Uri Avnery bekannt, sich von dem Konzert zu einem sehr einfühlsamen Gedicht inspirieren ließ, das in dem Buch erstmals veröffentlicht wurde: „Gebt ihnen Geigen!“ (S. 136 ff).

Langers Empathie für die Palästinenser, die niemals in Feindschaft gegenüber den Juden umschlägt, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Es ist eine Parteinahme für die Unterdrückten und Verzweifelten und eine Anklage gegen eine israelische Politik, die trotz mancher Wendungen (Scharon war kein Rabin) 40 Jahre lang an ihrem staatsdoktrinären Anspruch auf Ostjerusalem und große Teile des Westjordanlands festhielt. Es ist über weite Strecken auch eine Erklärung dafür, dass in den Wahlen von 2006 Hamas einen so überwältigenden Sieg eingefahren hat (S. 141 ff) oder dass die israelische Politik und Gesellschaft auch nach den letzten Wahlen weiterhin ausschließlich auf die militärische Karte setzen (S. 155 ff).

Felicia Langer wäre nicht Felicia Langer, wenn sie nicht auch Zeichen der Hoffnung erkennen würde. In diesem Buch allerdings kaum in den Geschehnissen des Nahen Ostens. Das Manuskript endet im Juli 2006, also mitten im israelischen Krieg gegen den Gazastreifen und gegen Libanon. Wenn die israelische Militär(über)macht das ungleiche Geschehen diktiert, bleibt wenig Raum für Alternativen. Sie sind dennoch in dem Buch gegenwärtig: Vor allem in der Schilderung der vielen Begegnungen und Veranstaltungen, welche die Autorin auf ihren ausgedehnten Vortragsreisen Revue passieren lässt. Ob es die Verleihung des begehrten Erich-Mühsam-Preises 2005 in Lübeck ist oder ihre Reise durch verschiedene Städte der Westbank im selben Jahr (ihre „Reise in die Vergangenheit“, wie das Kapitel überschrieben ist): Immer legt sie Zeugnis von ihrer eigenen argumentativen Überzeugungskraft und von der Anerkennung und Wärme, die ihr von den jeweiligen Veranstaltern entgegengebracht wird. Schließlich geht es bei alledem ja um nichts weniger als um das Gewinnen der Köpfe und Herzen der Menschen. Vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, wo Kritik an der israelischen Politik von Staats wegen nicht gern gesehen wird, schafft es diese erstaunliche Frau, ihr Publikum emotional zu fesseln und rational zu überzeugen. Und genau das spürt man auch beim Lesen des Buches.

Peter Strutynski, Kassel

Dieser Beitrag erschien in: Marxistische Blätter, Heft 2, 2007 Die Marxistischen Blätter erscheinen sechs Mal im Jahr und sind zu beziehen bei: Marxistische Blätter Hoffnungstr. 18 D-45127 Essen (Tel.: 0201/236757; e-mail: MarxBlaetter@compuserve.de )